Ein Blick in die historische Tiefenstruktur des Salzkammergutes

Salz ist die Basis für eine einzigartige Geschichte der Region und für ein besonderes Selbstverständnis ihrer Bewohnerinnen und Bewohner im Wandel der industriellen Moderne. Die Salzgewinnung hat wirtschaftliche und politische Auswirkungen auf Mensch und Landschaft im Salzkammergut.

Die heutige Wahrnehmung des Salzkammergutes hat sich zum weitgehend homogenen Bild einer Tourismusregion verfestigt. Dass diese Homogenität nur scheinbar und oberflächlich ist, wird rasch erkennbar, wenn man sich mit der Region etwas mehr vertraut macht und auf deren historische Tiefenstruktur stößt, die eine Reihe von Spannungsfeldern innerhalb des Regionalbewusstseins gewahr werden lässt. So wurde zwar in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Salzkammergut zum Symbol einer schönen Landschaft stilisiert, deren kulturelle Tradition und folkloristische Gemütlichkeit in die Zeit der Monarchie zurückreicht und ein „entpolitisiertes“ Österreichbild und Heimatbewusstsein prägte. Hinter dieser schönen Fassade wirken aber Differenzen und Bruchlinien weiter, die im Alltag zum Tragen kommen.

Drei Entwicklungsszenarien lassen sich allgemein benennen: Zum einen die sogenannte „alte Salzregion“, das bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestehende Salzkammergut, die innerhalb des frühneuzeitlichen Staatswesens eine separate und in spezieller Weise strukturierte Wirtschafts- und Verwaltungseinheit bildete. Zum anderen die Transformation des Salzkammergutes in eine Tourismusregion ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Und drittens die Position des Salzkammergutes in den wirtschaftlichen und politischen Wechsellagen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach dem Ende der Monarchie, in der Ersten Republik, im „Ständestaat“ des Austrofaschismus und in der Zeit des Nationalsozialismus.

Konkrete Gestalt findet solch eine Tiefenstruktur etwa im differenten Verhältnis der Teilregionen des Salzkammergutes zueinander sowie zur Gesamtregion, denn bereits die landeshoheitlichen Unterscheidungen in ein oberösterreichisches Salzkammergut, ein das Ausserland umfassendes steirisches Salzkammergut und einen salzburgischen Teil des Salzkammergutes sowie regional in ein „inneres“ wie „äußeres“ Salzkammergut vermitteln einen ersten Eindruck von der gegenseitigen Abgrenzung, die sich innerhalb der Teilregionen fortsetzt. Dies findet immer wieder Ausdruck in lebhaft geführten Debatten um die Frage des Mittelpunkts bzw. Zentrums des Salzkammergutes, die sich auch um eine gemeinsame Salzkammergut-Identität dreht.

Erkennbar werden die tradierten Spannungsfelder ebenfalls in der wirtschaftlichen und politischen Geschichte der Region, die Haltungen und Identitätsmuster prägt. Denn die Wertschöpfungskette von der Salzgewinnung bis zur Salzvermarktung erforderte ein Verwaltungssystem, das maßgebliche Auswirkung auf die innerregionale Differenziertheit des Salzkammergutes hatte. Es entstand eine strukturelle Hierarchie zwischen Produktions-, Handels- und Verwaltungsstandorten als Zentren einerseits und andererseits ihrer Peripherie der Zuliefergebiete. Die strukturelle Hierarchie hat sich im Bewusstsein der Bevölkerung zur sozialen Hierarchie verfestigt. Daraus abgeleitete kulturelle Eigenheiten sind in Form von teilregionalen Rivalitäten bis heute wirkmächtig geblieben. So bestehen im steirischen Salzkammergut latente Spannungen zwischen den Ausseerland-Gemeinden der ehemaligen Wertschöpfungszentralen und dem als „Hinterberg“ bezeichneten Gebiet um Bad Mitterndorf als ehemaligem Zuliefergebiet. Zwar bewirkte der Bau der Eisenbahn ab 1875 auch eine Öffnung der Region, die vor allem in nördlicher Richtung zu einer Verschiebung von Zentralörtlichkeiten beitrug. Doch es blieben die Rivalitäten der ehemaligen salzwirtschaftlichen Zentralorte untereinander bestehen und sie sind in Diskussionen um die Position von Bad Aussee, Bad Ischl oder Gmunden als möglichem Zentrum des Salzkammergutes erkennbar. Eine weitere aus der „alten Salzregion“ abgeleitete Tradition in der regionalen Bewusstseinshaltung ist ein gewisser Widerstand gegen die Obrigkeit. Dieser wird einerseits mit der vergleichsweise starken Präsenz des Protestantismus und andererseits mit der relativen Eigenständigkeit gegenüber der landesfürstlichen Zentralmacht begründet.

Verschärfend wirkte hier auch der Wandel zur Tourismusregion ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Verlust des Sonderstatus durch die Eingliederung des Salz- und Forstwesens in die neuzeitliche Staatsverwaltung und die räumliche Ausdehnung der Tourismusregion über das Gebiet des alten Salzkammergutes hinaus bauten langfristig wirksame Spannungsfelder auf. Dazu gehören die Vorbehalte der alten gegenüber den neu dazukommenden Gebieten unter der informellen Regionsbezeichnung „Salzkammergut“. Weiters entwickelt die Konkurrenz der Tourismusstandorte einen Zwiespalt von Kooperation unter einer gemeinsamen Dachmarke und dem Wunsch nach lokaler Eigenständigkeit. Und schließlich gibt es die Differenz zwischen dem touristischen Blick von außen (durch Werbeprospekte, Literatur, Reiseberichte etc.) und dem tradierten internen Regionalbewusstsein mit aller Reserviertheit gegenüber Fremden und Zugereisten. Die Reisekultur der Sommerfrische im Laufe des 19. Jahrhunderts mit einem relativ hohen jüdischen Gästeanteil schuf zusätzliche konkurrierende Ausprägungen.

Im frühen 20. Jahrhundert wurde die staatliche Salzwirtschaft durch eine restriktive Austeritätspolitik (Ziel war ein ausgeglichener Staatshaushalt ohne Neuverschuldung) in besonderem Maße beeinträchtigt. Die Sommerfrische im Salzkammergut war zwar anhaltend beliebt, weil man dort, wie es in der Operette Im weißen Rößl am Wolfgangsee hieß, „gut lustig sein“ konnte. Auch boten die Anfänge eines Wintertourismus in den dafür prädestinierten Orten einen gewissen ökonomischen Rückhalt. Das reichte aber keineswegs für eine dauerhafte Stabilisierung der regionalen Wirtschafts- und Beschäftigungsverhältnisse.

Infolgedessen verstärkten sich in der Republik und dann ab 1933/34 im austrofaschistischen Ständestaat Tendenzen einer politischen Zergliederung der regionalen Bevölkerung in die drei aus der Habsburgermonarchie heraus tradierten politischen Lager bei wachsendem offenem Antisemitismus. Es ist für die wirtschaftsstrukturellen Unterschiede im Salzkammergut durchaus charakteristisch, dass dabei die Zunahme der politischen Linken (Sozialisten und Kommunisten) und Rechten (illegalen Nationalsozialisten) im „inneren Salzkammergut“ stärker ausgeprägt war als im „äußeren Salzkammergut“, wo das christlich-soziale Bürgertum eine vergleichsweise dominierende Position halten konnte.

Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das Dritte Reich und der Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft im Salzkammergut kam dessen Landschaft im strategischen Raumkonzept des NS-Regimes zum Tragen. Einerseits wurde das Salzkammergut als Kultur- und Erholungsraum definiert und damit seine touristische Tradition „völkisch“ instrumentalisiert. Dazu gehörte die Enteignung, Vertreibung und Verfolgung jüdischer Mitbürger auch in der Sommerfrische Salzkammergut. Andererseits wurde das Salzkammergut Teil einer propagandistischen „Alpenfestung“ und zum Rückzugsraum des Regimes erklärt. Das inkludierte auch die Unterbringung eines wesentlichen Teils der in ganz Europa geraubten Kulturgüter im Altausseer Salzbergwerk sowie die Versenkung von geheimen Rüstungsmaterialien und (gefälschten) Geldwertzeichen im nahegelegenen Toplitzsee. Beide Ereignisse wurden nach 1945 Teil einer im Ausseerland betriebenen Mythisierung, die in der regionalen Erinnerungskultur weiterhin wirksam ist. Ein anderer Teil der regionalen Erinnerungskultur gilt dem passiven Widerstand mancher Einheimischer gegen das NS-Regime. Ob es Frauen waren, die unter Lebensgefahr Nahrung oder Nachrichten überbrachten und den Feind aushorchten, oder ob es einige Männer waren, die sich in den Bergen ihren Verfolgern entzogen. Der in seiner Bandbreite schillernde Umgang mit der Erinnerung an die NS-Zeit ist inzwischen Teil einer weit in die historische Tiefenstruktur zurückreichenden vielfältigen Gemengelage im regionalen Bewusstseinsspektrum der Bevölkerung des Salzkammergutes geworden

Christian Dirninger